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Schnellverfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Geheimdienst-Spionage

2014-01-23 22:45:00, stefan

Die Beschwerdeführer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) begrüßen die Entscheidung des Gerichts, sich der Spionagevorwürfe gegen den GCHQ im Schnellverfahren anzunehmen. Die Richter sollen feststellen, ob die jüngst bekanntgewordenen Internetüberwachungsprogramme des britischen Geheimdiensts Rechtsgrundsätze verletzen.

Die Bürgerrechtsgruppen Big Brother Watch, die Open Rights Group, die britische Schriftstellervereinigung PEN und die Netzaktivistin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC), Constanze Kurz, hatten die Beschwerde ins Rollen gebracht, nachdem Details über die riesigen Datensammlungen der britischen Spionagedienste an die Öffentlichkeit gekommen waren.

Das Gericht hat nach Abschluß der Voruntersuchungen nun die britische Regierung aufgefordert, sich für die Praktiken ihres Geheimdiensts GCHQ und dessen Kontrolle zu rechtfertigen und darzulegen, inwiefern diese mit dem Recht auf Privatsphäre gemäß Artikel 8 der Europäischen Konvention der Menschenrechte in Einklang zu bringen sind. Ferner wurde der Fall als einer der wenigen überhaupt für eine vorrangige Bearbeitung vorgesehen. Der britischen Regierung wurde für die Erwiderung eine Frist bis zum 2. Mai gesetzt, danach erst kann der Fall weiter bearbeitet werden, bevor ein Urteil ergehen kann.

Die Beschwerdeführer berufen sich darauf, daß das GCHQ durch die anlaßlose Überwachung von Millionen vollkommen unverdächtiger europäischer Bürger gegen das Menschenrecht auf Privatsphäre verstößt.

Stellungnahmen:

Der Vorstand von Big Brother Watch, Nick Pickles, sagte: "Wir wissen jetzt, daß das GCHQ trotz anderslautender Beteuerungen vor dem britischen Parlament eine zentrale Überwachungsdatenbank betreibt. Durch das Beschwerdeverfahren wollen wir der Frage auf den Grund gehen, warum Öffentlichkeit und das Parlament nicht ausreichend über den industriellen Umfang der Überwachung und der damit verbundenen Grundrechtsverletzungen informiert wurden."

Die Direktorin der britischen Schriftstellervereinigung PEN, Jo Glanville, sagte: "Die britische Regierung hat es bisher versäumt, sich zu den Enthüllungen über die Aktivitäten des GCHQ zu äußern. Wir sind hocherfreut, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich der Beschwerde mit Priorität annimmt. Dies geschieht nur in einer handvoll Fälle und ist ein Maß für die beträchtlichen internationalen Bedenken über das aus dem Ruder gelaufene britische Überwachungsprogramm."

Der Vorstand der Open Rights Group, Jim Killock, sagte: "Das digitale Zeitalter birgt die Gefahr, daß Regierungen alles und jeden fast zu jeder Zeit flächendeckend beobachten. Wir mußten lernen, daß unsere Gesetze zur Umsetzung dieser Bestrebungen gebeugt und mißbraucht wurden."

Der Verfahrensvertreter Daniel Carey von Deighton Pierce Glynn, der Kanzlei, die die Beschwerdeführer vertritt, sagte: "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Fall bemerkenswert schnell der britischen Regierung vorgelegt und dessen Bearbeitung zu seiner Priorität erhoben. Das Gericht hat durch seine Aufforderung an die Regierung, zur Rechtmäßigkeit der Überwachungsvorgänge und den installierten Kontrollmechanismen Stellung zu nehmen, entschieden gehandelt. Dies läßt hoffen, daß das Gericht der Regierung bei weiterem Leugnen von Verstößen Reformen ins Stammbuch schreibt."

Die Informatikerin und CCC-Sprecherin Constanze Kurz sagte: "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt von der britischen Regierung dringlich Antworten. Es ist nun unerläßlich, daß die Menschenrechte und der Respekt vor der Privatsphäre von Millionen EU-Bürgern endlich auch von der britischen Regierung und dem Parlament, aber auch auf EU-Ebene die Priorität erfahren, die ihnen gebührt."

Links:

Britischer Geheimdienst GCHQ wegen Massenüberwachung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: http://www.ccc.de/de/updates/2013/gchq

Privacy not PRISM: https://www.privacynotprism.org.uk/

Auch auf nationaler Ebene hat sich der Chaos Computer Club einer Initiative der Internationalen Liga für Menschenrechte angeschlossen und wird – parallel zu Strafanzeigen der Ligen für Menschenrechte in Frankreich und Belgien – noch im Januar Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Geheimdienste sowie Mitglieder der Bundesregierung stellen. Gegenstand des Strafantrags wird die Verletzung der höchstpersönlichen Lebensbereiche der Bürger sein. Weiter soll geprüft werden, ob sich verantwortliche Personen der Spionage zugunsten der USA schuldig gemacht haben.

Weitere Informationen zum EGMR-Verfahren:

Die britischen Bürgerrechtsgruppen Big Brother Watch, Open Rights Group, der britische Schriftstellerverband PEN und die Informatikerin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs haben am 4. September 2013 gegen den britischen Geheimdienst Government Communications Headquarters (GCHQ) wegen illegalen Eingriffs in die Privatsphäre von Millionen britischer und europäischer Bürger eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Kern der Beschwerde ist, daß unkontrollierte Überwachung einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt, der allen EU-Bürgern ein Menschenrecht auf Privatsphäre einräumt. Jegliche Einschränkung dieses Grundrechts muß sowohl verhältnismäßig sein als auch im Einklang mit öffentlichen gesetzlichen Vorgaben stehen. Weder die Gesetze noch die geheimdienstliche Praxis in Großbritannien erfüllen diese Vorgaben.

Die britischen Beschwerdeführer hatten ursprünglich versucht, ihren Fall einheimischen Gerichten vorzulegen, und am 3. Juli 2013 die britischen Regierung informiert, den Rechtsweg beschreiten zu wollen. Diese ließ jedoch verlauten, britische Gerichte würden den Fall nicht bearbeiten. Stattdessen solle man sich an die parlamentarische Geheimdienstkontrolle (Investigatory Powers Tribunal) wenden – jenes geheime Gremium, das für Beschwerden über Geheimdienste zuständig ist und dessen Ergebnisse nicht gerichtlich anfechtbar sind. Im Verfahren "Kennedy ./. Großbritannien" hat der EGMR festgestellt, daß vor dem Gang nach Straßburg keine vorherige Beschwerde bei der Geheimdienstkontrollbehörde notwendig ist, da es dessen Effizienz und Macht zur wirksamen Beseitigung der Mißstände bezweifelte. Die Beschwerdeführer haben daher ihren Fall beim EGMR vorgestellt, der nun entscheiden muß, ob die britischen Gesetze internationales Recht brechen. Es wird angenommen, daß es sich um den ersten Fall solcher Grundrechtsprüfung in Folge der Veröffentlichungen von Edward Snowden im Jahr 2013 handelt.

Die Internet-Überwachung in Großbritannien ist hauptsächlich im Gesetz "Regulation of Investigatory Powers Act" (RIPA) geregelt, welches sicherstellen soll, daß Überwachung im Internet die Ausnahme und nicht die Regel wird. Offensichtlich ist das Gesetz gescheitert. Da die meisten Internetaktivitäten briitischer Benutzer technisch bedingt als international betrachtet werden, kann die Kommunikation unter Berufung auf Paragraph 8(4) RIPA von der GCHQ abgehört, gespeichert und ausgewertet werden. Die Befugnisse, im Rahmen des TEMPORA-Programms zu überwachen, scheinen als eine Art kontinuierlicher Blankoscheck ausgestellt zu sein. Darüberhinaus ist anzunehmen, daß die gewonnenen Informationen Partnergeheimdiensten wie der NSA frei zugänglich gemacht werden. Dies ist vergleichbar mit dem umfänglichen Abfangen, Speichern, Auswerten, Kopieren und dem Zugänglichmachen für die Geheimdienste der Welt von allen durch Großbritannien geleiteten Briefsendungen unter dem bloßen Vorwand der nationalen Sicherheit.

Zur Zeit der Verabschiedung des RIPA war den Gesetzgebern nicht klar, ob Internetverbindungen in brauchbarer Art und Weise abgehört werden können. Ganz sicher gab es kein öffentliches Bewußtsein für die weitreichenden Folgen der Befugnisse, die den Geheimdiensten durch das Gesetz gewährt wurden.

Ähnlich verhält es sich mit dem US-Pendant des Spähprogramms unter dem Namen PRISM, in dessen auch für den GCHQ verfügbaren Datensammlung sich ebenfalls Spuren der Internetaktivitäten vieler EU-Bürger wiederfinden. Bis zu den Veröffentlichungen war den britischen Aufsichtsbehörden diese Praxis gänzlich unbekannt. Die wichtigste dieser Behörden, das Parliamentary Intelligence and Security Committee, vergleichbar mit dem deutschen Parlamentarischen Kontrollgremium, stellte dem Programm nach nur kurzer Untersuchung innerhalb weniger Wochen einen Persilschein aus.

Eine nähere Betrachtung legt jedoch nahe, daß die flüchtige Untersuchung einen nur zweiseitigen Bericht produzierte, der kaum die Spitze des Eisbergs beleuchtet. Dieses gesamte Fachgebiet der Geheimdienstpraxis ist vollständig rechtlich und verfahrenstechnisch unreguliert.

Die Beschwerdeführer erwarten, daß der Gerichtshof die Überwachungspraktiken in Großbritannien für unverhältnismäßig befindet und feststellt, daß die Gesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre ungeeignet ist. Die Praxis der routinemäßigen Bewilligung von Überwachungsanordnungen zeigt, daß die Kontrolle gescheitert ist und/oder umgangen wird sowie, daß die mit der Kontrolle Beauftragten versagt haben.
Die Beschwerdeführer erwarten, daß der Gerichtshof Großbritannien in die Pflicht nimmt, die Überwachungspraxis gesetzlich auf ein die Grundrechte beachtendes Maß zu begrenzen. Das bedeutet, die zu erwartenden neuen Gesetze müssen verhältnismäßig sein sowie einer strengen juristischen und öffentlichen Aufsicht unterliegen. Sie müssen regeln, daß die von Überwachung betroffenen Bürger (mindestens nachträglich) ausreichend informiert werden und daß Aufsichsbehörden mit genug Resourcen und Befugnissen ausgestattet werden, um die Umsetzung dieser Gesetze auch kontrollieren zu können. Kurzum: Es muß ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der die Prinzipien der Umsetzung von Menschenrechten gegenüber Kommunikationsüberwachung anerkennt und gewährleistet. Weitere Informationen (auf Englisch): https://en.necessaryandproportionate.org).